Auf Einladung der Bundestagsabgeordneten Kerstin Griese erlebte der Gesprächskreis Kirche und Politik einige spannende Tage in der Bundeshauptstadt. Neben dem bisweilen straffen Programm blieb ausreichend Zeit zur freien Gestaltung.
Von Stefan Mülders
RATINGEN/BERLIN Insgesamt 50 überwiegend ehrenamtliche Vertreter aus christlichen, islamischen und jüdischen Glaubensrichtungen waren der Einladung der Bundestagsabgeordneten Kerstin Griese nach Berlin gefolgt. Schon der Ausblick auf das angekündigte Programm ließ nicht erst bei der Anreise Vorfreude aufkommen. An eine Stadtrundfahrt schlossen Diskussionen mit Kirchenvertretern und Bundespolitikern, gleich mehrere Besichtigungsmöglichkeiten im Reichstag inklusive Besuch einer Parlamentssitzung und Führungen in der Neuen Synagoge und am Abschlusstag an der Gedenkstätte Berliner Mauer an. Zu den politischen Runden trafen sich die Teilnehmer im Paul-Löbe-Haus ein, in dem die Büros vieler Abgeordneter und zahlreiche Ausschusssäle untergebracht sind. Normalerweise ist das Bürogebäude nicht Bestandteil der vom Bundespresseamt organisierten Reisen.
Am Ende fiel es allen schwer, aus den vielen Eindrücken die prägendsten herauszufiltern. Viele der Teilnehmer antworteten mit „Alles“ auf die Frage, was ihnen an der Reise am besten gefallen hat. Es waren beeindruckende Gespräche mit dem Prälaten der Evangelischen Kirche Deutschlands (EKD), Bernhard Felmberg, Wolfgang Thierse in Doppelfunktion als Bundestagsvizepräsident und Mitglied des Zentralkomitees der Katholiken (ZdK) sowie Aydan Özoguz, Integrationsbeauftragte und designiert Vizevorsitzende der SPD, die bleibende Eindrücke hinterließen. Auch wenn das Programm zeitweise sehr straff war, lobten die Teilnehmer die Organisation und die Auswahl der Themen.
Inhaltlich war das gesamte Programm zwar eher auf kirchliche und religiöse Themen ausgelegt, doch letztendlich spielte vielfach neben den sozialen Schwerpunkten auch die Finanzpolitik eine große Rolle. So nahmen zum Beispiel viele Teilnehmer die Möglichkeit gerne an, einer finanzpolitischen Diskussion des „Netzwerk Berlin“ mit Jörg Asmussen, scheidender Staatssekretär im Finanzministerium und neuer Chefvolkswirt der Europäischen Zentralbank (EZB), beizuwohnen. Im Bundestag folgten sie einem Teil der Debatte um den Haushalt für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung. Das Projekt „Soziale Stadt“ ist Teil dessen und berührt direkt die Arbeitsbereiche einzelner Teilnehmer und wird gekürzt. Von den Umgangsformen im Parlament zeigten sich einige schockiert, konnten direkt im Anschluss aber von Wolfgang Thierse und Kerstin Griese beruhigt werden: Es gehe meistens nicht so zu wie in dieser von der Volksabstimmung um „Stuttgart 21“ geprägten Runde. Zudem gehörten Fensterreden im Parlament dazu, in den Ausschüssen werde aber durchaus wesentlich intensiver beraten.
Doch nicht nur für die eingeladene Gruppe hat der Berlin-Besuch spannende Aspekte zu bieten. Für Kerstin Griese sind die Begegnungen mit den Bürgern aus ihrem Wahlkreis ein entscheidender Teil ihrer politischen Arbeit. „Mit ist der Austausch zu sozialen Themen und mit möglichst vielen gesellschaftlichen Gruppen sehr wichtig“, sagt sie. „Ich nutze viele Gelegenheiten, diese mit den Bürgerinnen und Bürgern zu diskutieren. Mit Reisen wir dieser hier habe ich außerdem die Möglichkeit, ehrenamtliches Engagement zu würdigen und gleichzeitig Einblicke in die politische Arbeit zu geben, die sich für diese Gruppen sonst nicht so einfach ergeben.“ Die Gespräche beeinflussen dabei durchaus auch ihre eigene politische Arbeit. Die aktuelle Reise zum Beispiel gab ihr Anregungen für Themen zu neuen Gesprächsrunden in ihrem Wahlkreis.
Dialog
Der Gesprächskreis Kirche und Politik wurde 2005 von Kerstin Griese in ihrem Wahlkreis ins Leben gerufen und bis zum vorübergehenden Ausscheiden aus der Bundespolitik 2009 von ihr gepflegt. Im Oktober hat die Pfarrerstochter den Kreis mit der Veranstaltung zum Thema „Gewissensentscheidungen“ wieder belebt. Die Einladung nach Berlin ist ebenfalls Teil dieses partei- und religionsübergreifenden politisch-kirchlichen Dialogs.
Kirche und Politik
(stemu) Die Abgeordneten des Bundestages können zwei- bis dreimal pro Jahr Gruppen aus ihren Wahlkreisen in die Bundeshauptstadt einladen. Diese Reisen werden dann vom Bundespresseamt organisiert, können aber auch individuelle Anteile enthalten. Im Falle von Kerstin Grieses Einladung waren dies die Gesprächsrunden. Prälat Bernhard Flemberg erläuterte, dass er eng mit seinem katholischen Kollegen zusammen arbeitet und sie sich gemeinsam in politische Themen einbringen, die kirchliche Belange berühren. Zudem werden sie – nicht nur zu ethischen Fragestellungen – von Abgeordneten zu Rate gezogen. Andachten im Bundestag werden organisiert und regelmäßig zum religions- und konfessionsübergreifenden Frühstück eingeladen.
Das Aufeinandertreffen mit Wolfgang Thierse räumte vor allem mit einem weit verbreiteten Missverständnis auf: Der Ostberliner ist erstens kein Pfarrer und zweitens noch nicht einmal evangelisch. In seinen Ausführungen erläuterte er die Funktion des Zentralkomitees der Katholiken (ZdK) und die Rolle von Christentum in der Politik. „Insbesondere bei ethischen Fragestellungen ist es wichtig, neben dem eigenen Gewissen auch die Meinung der Kirche zu Rate zu ziehen“, sagt der Bundestagsvizepräsident. „Wir müssen das Ich als Christ in Argumente umsetzen, die auch andere verstehen.“ Als Beispiele für schwierige Fragestellungen in der jüngeren Vergangenheit brachte er die Bundeswehreinsätze im Ausland und die Präimplantationsdiagnostik. Auf die Frage nach dem Durchschnittsalter der Abgeordneten antwortete Thierse: „Wir haben eine unterrepräsentierte Altersgruppe, die der Ü70.“ Im Hinblick auf sehr junge Abgeordnete forderte er, dass diese vor dem Weg in die Politik erst mal berufliche und soziale Erfahrung sammeln sollten. Wobei er grundsätzlich begrüßte, dass es junge Abgeordnete gibt – aber eben nicht zu junge.
Um Integration ging es in der Diskussion mit Ayda Özguz, die am kommenden Wochenende auf dem SPD-Parteitag als Vize-Vorsitzende kandidiert. Die Hamburgerin mit Migrationshintergrund erläuterte, dass Integrationspolitik auch viel mit Bildung zu tun hat. Darum habe sie in ihrer Arbeite Schwerpunkte auf frühe Förderung (in der Grundschule) und Weiterbildung für Menschen mit schlechtem oder gar ohne Schulabschluss gelegt. Natürlich spiele dabei auch das Projekt „Soziale Stadt“, das zum Beispiel in Ratingen-West, Heiligenhaus-Oberilp und den Velberter Stadtteilen Birth/Losenburg Umsetzung findet, eine bedeutende Rolle.
Geschichte live
(stemu) Als die Gruppe am Abschlusstag die Gedenkstätte Berliner Mauer in der Bernauer Straße besuchte, erlebte sie während einer Andacht den vielleicht bewegendsten Moment der Reise. Ein Zeitzeuge trug die Geschichte eines vor 50 Jahren in der Spree ertrunkenen DDR-Flüchtlings vor. Überliefert war die Version, dass der junge Mann, zu dessen Gedenken die Andacht veranstaltet wurde, durch Unterkühlung gestorben sei und auf diese Weise zu der Vielzahl der verunfallten Mauertoten gezählt wurde. Aus dem Kreis der anwesenden erhob sich dann aber ein anderer Mann, der berichtete, dass sein Bruder bei dem Ereignis am 26. November 1961 dabei war. Und der berichtete von Schüssen auf den schwimmenden Flüchtling, in deren Folge er im Wasser verstarb.
Zu den sogenannten Mauertoten werden alle Menschen gezählt, die im Zusammenhang mit den Grenzaktivitäten ums Leben gekommen sind. So starben zum Beispiel Kinder, nachdem sie in die Spree gefallen waren. Die befand sich komplett auf Ostberliner Gebiet und es durfte niemand, der hineingefallen war, gerettet werden.
Autor: Muelders -- 14.01.2012; 01:14:20 Uhr
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